Im Interview mit Ela Meyer zu ihrem neuen Roman "Furchen und Dellen"

Veronika Plainer
Veronika Plainer

Ela Meyer erzählt in Furchen und Dellen die Geschichte von alten Freund*innen, von einer Rückkehr und vom Aufwühlen tiefsitzender Emotionen einfühlsam, authentisch und mit genau der richtigen Prise Humor. Wir haben uns mit der Autorin über ihren Roman unterhalten.

"Das Altern der anderen rührte mich, war so intim, wie alle anderen körperlichen Prozesse, derer wir uns schämten, und die wir voreinander zu verbergen suchten. Ich fühlte mich in guter Gesellschaft mit den eigenen Dellen und Furchen." Was hat dich dazu bewogen, deinem neuen Roman den Titel Furchen und Dellen zu verleihen?

Die Furchen und Dellen stehen für die sichtbar gewordenen Erfahrungen und all die Jahre, die uns geprägt, die sich in uns und unsere Körper eingeschrieben haben.

"Gemeinsam mit meiner ehemals besten Freundin Doro, unserer liebsten Mitbewohnerin Antonia und als Nachbarn, eine Treppe unter uns, unserem Freund Rafa, hatte ich im dritten Stock in einem Zimmer mit Blick auf den Garten gelebt." Was sind das für Mitbewohner*innen, denen die Leser*innen in deinem Roman begegnen?

Doro und Chris kennen sich seit ihrer Kindheit. Sie haben alle wichtigen Phasen ihres Lebens miteinander durchlebt, haben einander in Krisen und wilden Zeiten beigestanden. Sie tragen ihre Konflikte offen aus, sind ehrlich zueinander und immer wieder Spiegel füreinander. Doro stellt für Chris einen Gegenpart dar und hilft ihr, das eigene Handeln, die eigene Geschichte besser zu verstehen.
Antonia ist eine besonnene Person. Chris kann sich an sie anlehnen, im metaphorischen und wörtlichen Sinne, sich ankuscheln und sicher fühlen. Gerade in ihrer Besonnenheit stellt Antonia ein Role-Model für Chris dar.
Nach Chris’ Rückkehr gestaltet sich die erneute Annäherung mit Rafa kompliziert. Früher scheint er in der WG der drei Freundinnen ein Zuhause gesucht zu haben, das er nun in der Beziehung mit seiner neuen Partnerin zu finden hofft.

Die WG-ler*innen in deinem Roman zeigen auf, dass es neben der traditionellen Kernfamilie auch viele weitere, selbst gewählte Familienformen geben kann. Was ist deine persönliche Definition von Familie?

Um es mit den Worten von Chris, der Protagonistin des Romans, zu sagen: "Familie, ein Wort, das Beklemmung und Sehnsucht bei mir auslöste, stand sie doch für Schutz und Gefahr."
Meine Gefühle dem herkömmlichen Familienmodell gegenüber sind ambivalent. Ein nach außen geschlossener Raum, in dem es viel zu oft zu Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch kommt, der aber auch Schutz, Zugehörigkeit und Fürsorge bedeuten kann. Die klassische Familie ist ein Konstrukt, das zum patriarchalen und kapitalistischen System gehört. Darum freut es mich, dass immer mehr Menschen aus dieser Form ausbrechen und sich an anderen Modellen probieren. Mir sind meine engen Freund*innen mindestens genauso wichtig wie meine Familie. Sie sind mir Fürsorge, Zugehörigkeit und Gemeinschaft und bilden meine sogenannte Wahlfamilie. Am Begriff der Wahlfamilie wird deutlich, dass auch hier die Familie als Vorbild, als Maß aller Dinge dient, was schade ist, da Freund*innenschaft für sich eine sehr starke Beziehungsform ist, die häufig unterschätzt wird.

Auch die Protagonistin Chris hat demnach eine eigene Definition von Familie entwickelt, ist sie doch vor allem durch ihren verstorbenen Großvater von Kindheit an geprägt worden. Welche für Chris maßgebliche Charaktereigenschaft würdest du ihrem Großvater zuschreiben?

Chris wird von klein auf eingeredet, wie ihr Opa zu sein: cholerisch, unberechenbar und wütend. Diese Zuschreibungen bremsen sie emotional aus, ihr wird signalisiert, dass sie und ihre Gefühle nicht richtig seien.
Chris’ Wut wird als Makel angesehen, sie wird dafür verurteilt, so wie es viele wütende Frauen erleben. Bezeichnenderweise schämt sich Chris für ihre Gefühle und befürchtet, andere generell mit ihren Emotionen zu überfordern. Schon früh hat sie gelernt, sich zu kontrollieren und, sollte es ihr doch mal nicht gelingen, ihre Wut an Gegenständen auszulassen und nicht an Menschen - im Gegensatz zu ihrem Großvater. Anders als er wütet sie nicht, um ihre autoritäre Machtposition zu manifestieren, sondern in Momenten der Ohnmacht oder Überforderung.

"Schon immer hatte mich die Möglichkeit der Reproduktion, die mein Körper mir bot, erschreckt. Sie reizte mich genauso wenig, wie die rein theoretisch in meinem Körper angelegte Möglichkeit, Ballett zu tanzen, auf Berggipfel zu klettern oder mich auf Skiern von eben jenen in die Tiefe zu stürzen." Ein in der Gesellschaft noch oft tabuisiertes Thema ist die Situation, wenn Frauen sich bewusst gegen ein Kind entscheiden. Aus welchem Grund hast du dich dafür entschieden, diese Thematik aufzugreifen?

Kinderlose Frauen verkörpern in der Gesellschaft nach wie vor einen Mangel. Immer wieder müssen sie sich für ihre Entscheidung gegen ein Kind rechtfertigen. Als wären Schwangerschaft und Geburt der einzig richtige Weg, als wären sie ein Schicksal, dem sich keine Person mit der Möglichkeit zur Reproduktion entziehen darf. Mich nervt bei diesen Diskussionen besonders das Gegeneinander-Ausspielen unterschiedlicher Lebensentwürfe. Ich wünsche mir, dass allen Personen zugestanden wird, sich frei für einen Weg zu entscheiden, ohne dafür verurteilt zu werden – sei es nun für ein Leben mit oder ein Leben ohne Kind/er.

An einer Stelle im Buch heißt es von Chris: "Ich weiß, dass viele Personen jenseits der Wechseljahre darunter leiden, nicht mehr als Frauen oder ›weiblich‹ wahrgenommen zu werden, aber ich fühle mich viel freier." Welche persönlichen Erfahrungen oder Beobachtungen haben dazu geführt, dass du das Thema Wechseljahre in deinem Roman mit aufgenommen hast?

Durch meine eigene Menopause wurde mir bewusst, wie wenig Aufmerksamkeit dieses Thema in der Öffentlichkeit bekommt und wie schambehaftet es ist, so wie viele Frauen von früh auf gelernt haben, sich für ihren Körper zu schämen. Die wenigsten Personen verbinden mit dem Begriff Wechseljahre etwas Positives, sondern haben Angst vor den lästigen Symptomen und davor, mit dem Ende ihrer fruchtbaren Phase und dem Älterwerden nicht mehr gesehen und weniger ernst genommen zu werden. Ich persönlich bin erleichtert, mich nicht mehr vom Zyklus und meinen Hormonen durch den Monat schubsen zu lassen.
Es ist wichtig, der Erzählung rund um die Menopause eine andere entgegenzusetzen, eine, in der Personen jenseits der Wechseljahre noch immer Protagonist*innen sind, sichtbar, hörbar, lustvoll oder auch mal lustlos, laut oder leise und im Leben stehend.
Wie auch immer die einzelnen Personen diese Phase erleben, ob als Qual, als Befreiung oder als banal: Es ist an der Zeit, endlich mehr über die Wechseljahre zu reden und sie von ihrem miesen Stigma zu befreien.

In deinem Roman widmest du dich Themen wie gesellschaftliche Erwartungen an Frauen, Kinderwunsch und gewollte Kinderlosigkeit, unterschiedliche Familienmodelle und Feminismus. An welche Leserschaft richtet sich dein Buch?

Ich fände es toll, wenn sich auch Menschen für diese Themen begeistern, die sich nicht sowieso schon längst damit auseinandersetzen. Abgesehen davon möchte ich mit meinem Roman Personen ansprechen, die sich für die Rolle von und gesellschaftliche Erwartungen an Frauen im Allgemeinen. Personen, die einen Text über alternative Familienmodelle lesen wollen und darüber, wie befreiend es sein kann, sich von familiären Zuschreibungen zu lösen.