Im Interview mit Lucia Jay von Seldeneck zu ihrem Debütroman "Weltfrieden"


Bei GOYA ist der Roman Weltfrieden von Lucia Jay von Seldeneck und bei GOYALiT das gleichnamige Hörbuch erschienen. Letzteres wird eindrucksvoll von Anna Thalbach gesprochen. Im Interview erzählt uns die Autorin Einzelheiten zu ihrer unterhaltsamen wie skurrilen Antiheldengeschichte.
Weltfrieden ist eine Erzählung von den Verwicklungen der Treuhand sowie eine Ode an die Freundschaft - und die Narrenfreiheit in der zweiten Lebenshälfte. Im Interview mit uns verrät die Autorin u. a., welche Figuren ihr bei der Entwicklung am meisten Spaß gemacht haben und was sie zu dem Titel Weltfrieden inspiriert hat:
Was bedeutet "die Wende" für Dich persönlich und welchen Einfluss hatten Deine Erfahrungen auf die Geschichte?
Ich erinnere mich noch gut an die große Emotionalität bei den Erwachsenen. Das hat bei uns Kindern Eindruck hinterlassen. Dann war das Thema DDR aber auch schon ziemlich schnell erledigt. "Der Sozialismus ist gescheitert, der Westen hat gesiegt, Ende der Geschichte." Da war kein Platz für Ost-Biographien oder Ost-Identität. Erst 10 Jahre später, als ich als Volontärin einer Regionalzeitung in Brandenburg unterwegs war, habe ich zum ersten Mal die Geschichten der Menschen gehört. Ich wollte verstehen, wie sie diesen enormen Umbruch, die Wende und vor allem die Zeit danach erlebt haben. Wie es weiterging für sie. Damit hat alles angefangen.
Die ehemaligen Kolleg*innen aus dem Chemielaborwerk haben eine Gemeinsamkeit: Seit einer sogenannten Arzneimitteltestreihe, die bei den Mitarbeiter*innen im Werk durchgeführt wurde, wachsen ihnen keine Haare mehr. Beruht die Geschichte auf wahren Begebenheiten?
Damit keine Ostalgie aufkommt, habe ich ein Bild gesucht, das die Gruppe um Erika und Hermann prägt und auch äußerlich zeichnet, etwas aus der Vergangenheit, was man nicht einfach abschütteln kann. Etwas, das bleibt. Die DDR war ein Unrechtsstaat und darunter haben viele Menschen gelitten. Es gab angeordnete Medikamenten-Tests und Impfungen in der DDR, natürlich vor allem in Krankenhäusern, aber auch in der Armee und beim Jugendsport. Der Haarausfall als Folge ist fiktiv - aber ein starkes Bild. Historisch etwas gewagt, aber es hat mich nicht mehr losgelassen. Auch, wie sie dann damit umgehen, nämlich vollkommen nüchtern: Die Frauen tragen jetzt eben Perücken, die Männer ihre Wollmützen.
Welche der Figuren hat Dir am meisten Spaß gemacht?
Sie sind eine Gruppe, das war mir wichtig, sie brauchen sich gegenseitig: Sie stehen sich im Weg, sie verrennen sich, sie fallen und fangen sich gegenseitig auf. Und sie verlieben sich. Jede und jeder Einzelne hat ein Eigenleben entwickelt. Das heißt, ich bin selbst voller Staunen, was sie alles so auf die Beine gestellt haben!
Was ist das Besondere an Deinem Roman und wie bist Du auf die Idee zum Buch gekommen, was hat Dich inspiriert? Gibt es reale Vorbilder (z.B. der Betriebskindergarten, die Lebens- und Wendegeschichten, vielleicht sogar der Immobilienschwindel)?
Die Antwort ist ganz klar:
Brandenburg hat mich inspiriert - ganz besonders ein bestimmter Ort in
Brandenburg, der so was wie mein zweites Zuhause geworden ist, und seine
Geschichte. Und natürlich auch die Menschen. Ihre Geschichten, ihre Erfahrungen
nach der Wende, ihr Weitermachen. Viele Dinge gab es wirklich, zum Beispiel
eine zugebuddelte Grube mit Westmüll im Garten …
Was hat Dich zu dem Titel Weltfrieden inspiriert?
In der DDR hatten kommunale
Einrichtungen wie Kindergärten oder Straßen oft Namen, die die großen Ideale
des Sozialismus bezeichneten, wie zum Beispiel "Weltfrieden" und "Völkerfreundschaft".
Das ist im Nachhinein auch ein bisschen lustig, denn natürlich lässt sich so
etwas wie der Weltfrieden nicht als Ganzes anpacken. Er ist vielmehr im Kleinen
zu finden, in einer Gemeinschaft, kann dann vielleicht weitere Kreise ziehen,
wachsen. Und das ist auch ein bisschen die Geschichte, die das Buch erzählen
will. Auf die Gemeinschaft kommt es an.
Als Kind dachte Lucia Jay von Seldeneck (*1977 in Westberlin) lange Zeit, dass das Land hinter dem Grenzübergang unbewohnt sein muss. Später wurde das Neuland vor der Stadt zu einer Verheißung: Eine nie dagewesene Weite ließ sie zuweilen das Gefühl verspüren, die große Welt zu erobern. Als sie dann bei einer märkischen Zeitung ihr Volontariat machte und die Geschichten der Menschen hörte, merkte sie zum ersten Mal, dass sie einiges nachholen musste. Weltfrieden ist eine Annäherung an die Menschen, die den Umbruch nach der Wende an Haut und Haaren gespürt haben - und immer noch spüren. Von Lucia Jay von Seldeneck sind bisher fünf Berlin-Bücher in der Reihe 111 Orte beim Emons-Verlag erschienen sowie drei Bücher mit Kurzgeschichten beim kunstanstifter Verlag. Weltfrieden ist ihr erster Roman.
[19.10.2022]